Über das Projekt

Forschungsgruppe Zivile Seenotrettung als Kristallisationspunkt des Streits um Demokratie (ZivDem), Gerda Henkel Stiftung

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Ausgangspunkt der Forschungsgruppe ZivDem ist die These des Kristallisationspunktes: In der Praxis und im Diskurs über zivile Seenotrettung (ZSNR) im Mittelmeer kristallisiert sich ein Streit darum, was demokratisch sei, heraus. In der Verzahnung soziologischer, politikwissenschaftlicher und demokratietheoretischer Perspektiven rückt das Projekt die Praxis der und den europäischen Diskurs um die (zivile) Seenotrettung im Mittelmeer in den analytischen Fokus. Es geht davon aus, dass sich um die Arbeit der Seenotretter*innen herum eine soziale Bewegung formiert, welche ausgehend von dem Anspruch, dass Geflüchtete im Mittelmeer nicht sterben gelassen werden, Kritik an der EU-Grenzpolitik und den Mitgliedstaaten übt. Die zentralen Akteure der ZSNR werden im Streit um die Aufnahme von Geflüchteten in Europa zugleich zur Projektionsfläche autoritärer und anti-migrantischer Positionen. Mit dem Streit um die (zivile) Seenotrettung manifestiert sich daher nicht nur eine Debatte um die konkrete Ausgestaltung der gemeinsamen EU-Migrations- und Asylpolitik, sondern der Zukunft der europäischen Demokratie selbst.

Die interdisziplinäre Forschungsgruppe wird von der Gerda Henkel Stiftung im Zeitraum von 2022 bis 2025 sowie vom Forum Internationale Wissenschaft der Universität Bonn finanziert (Gesamtvolumen: 270.000€). Die Gruppe arbeitet an den Universitäten Bonn und Münster.

Der Aufbau der Forschungsgruppe

Das Forschungsprojekt setzt sich aus drei Teilprojekten (TP) zusammen: Das TP I analysiert das mediterrane Grenzregime in Bezug auf seine rechtlichen und politischen Beziehungen. Das TP II untersucht ländervergleichend zivilgesellschaftliche Reaktionen auf ZSNR. In Rekurs auf die empirischen Ergebnisse aus TP I und II fragt das demokratietheoretische TP III, inwiefern die ZSNR als kritische Praxis eines Streits um die Zukunft der Demokratie verstanden werden kann.

Demokratie ist mehr als nur Regierungsform. Demokratie ist eine lebendige Praxis des Streits. Er ist davon gekennzeichnet, dass Meinungen und Politiken herausgefordert werden, ohne sie zu diffamieren, als minderwertig zu brandmarken oder oppositionelle Überzeugungen zu eliminieren. In den letzten Jahren ist dieser Grundgedanke der (liberalen) Demokratie von autoritären Bewegungen und ethno-nationalistischen Parteien stark angefeindet worden: Und zwar, und dies ist durchaus bemerkenswert, vermeintlich zur Rettung der Demokratie selbst. Sie bedienen sich bestimmter Bedrohungsszenarien, die klare Feindbilder markieren: Die Demokratie sei durch ‚Fremde‘ und ihre Verteidiger*innen in Gefahr. Zu ihren Verteidiger*innen zählen Personen und Gruppen, die sich z.B. in der Flüchtlingshilfe engagieren. Zu den ‚Fremden‘ zählen par excellence Migrant*innen, Geflüchtete und Asylsuchende. Rassismus ist jedoch nicht nur eine randständige Position, die eine wehrhafte Demokratie auszuhalten habe. Vielmehr sickert er sukzessive in die sog. Mitte der Gesellschaft ein: Sagbarkeitsfelder werden ausgeweitet, anti-migrantische Ressentiments normalisiert und das Privileg des Weißseins unkritisch reproduziert. Wir argumentieren, dass autoritäre Positionen ein anti-demokratisches Recht auf Streit reklamieren. Denn dieser würde von ihnen beendet, sobald ihre Meinung sich durchgesetzt hätte. Hier endet dann Demokratie. An dieser Gegenwartsdiagnose setzt das Forschungsprojekt an, das soziologische, ethnologische, politikwissenschaftliche und demokratietheoretische Perspektiven verzahnt. Es rückt die Praxis der und den europäischen Diskurs um die (zivile/n) Seenotrettung im Mittelmeer in den analytischen Fokus: Wir gehen davon aus, dass sich um die Arbeit der Seenotretter*innen eine soziale Bewegung formiert, welche ausgehend von dem Anspruch, dass Geflüchtete im Mittelmeer nicht sterben gelassen werden, Kritik an der EU-Grenzpolitik und der ihrer Mitgliedstaaten übt. Die zentralen Akteure der zivilen Seenotrettung (ZSNR) werden im Streit um die Aufnahme von Geflüchteten in Europa zur Projektionsfläche autoritärer und anti-migrantischer Positionen. Mit dem Streit um die Seenotrettung befinden wir uns daher inmitten der Diskussionen um die konkrete Ausgestaltung der gemeinsamen EU-Migrations- und Asylpolitik und letztlich der europäischen Demokratie.

In ihm beobachten wir verschiedene Narrative und Diskurspositionen: Es wird, erstens, darauf verwiesen, dass sie eine Reaktion auf das (Politik-)Versagen der EU-Institutionen, der EU-Mitgliedstaaten und Mittelmeeranrainerstaaten sei. Darüber hinaus wird, zweitens, ein moralisch-humanitäres Motiv in Bezug auf die Rettung und Sichtbarmachung des Leids der ‚Anderen‘ bemüht. Ein drittes Motiv konstruiert ZSNR als kriminellen Akt, der keinerlei rechtlich-politisches Mandat hat und daher illegalisierte Migrationsbewegungen unterstützt. Wir fassen diese narrativ-diskursiven Elemente mit den Begriffen (De-)Politisierung, Moralisierung und Kriminalisierung zusammen.

Im Diskurs zur ZSNR manifestieren sich jedoch nicht nur Fragen um den Umgang Europas mit Geflüchteten. Vielmehr, so die These des Gesamtprojekts, zeigt sich hier, dass die Praxis der und der Diskurs zur zivilen Seenotrettung gegenwärtig einen Kristallisationspunkt des Konflikts um die Zukunft der Demokratie bilden. Hier beobachten wir mit Blick auf die Zukunft der Demokratie, zunächst allgemein gesprochen, zwei polare Positionen: Aktivist*innen und Unterstützer*innen der ZSNR fordern eine Erweiterung der politischen Partizipation von Migrant*innen und Geflüchteten im Sinne der europäischen Werteordnung. Im Gegensatz dazu verengen regressiv-autoritäre Positionen ‚Demokratie‘ auf nationalistische und essentialistische Motive, woraus sich eine Forderung nach Ausschluss ableitet. Die Rettung von alterisierten Personengruppen, wie Migrant*innen, stellt für sie eine Bedrohung der Demokratie dar, da sie Demokratie überstrapaziere: die Kapazitäten und Ressourcen der Aufnahmegesellschaften überlaste. An den, wortwörtlichen, Grenzen der Demokratie entsteht das Spannungsfeld von demokratischer Gemeinschaft und Migrationsgesellschaft, deren zugrundeliegende Prinzipien, einerseits Einheit, andererseits Offenheit, sich zunächst auszuschließen scheinen. Jedoch bietet die zeitgenössische Demokratietheorie spekulative Vorstöße und konzeptionelle Experimente zur Skizzierung einer Demokratie im Kommen.

Sarah Spasiano (Promotionsstipendiatin), Mareike Gebhardt und Lena Laube (beide Leitung)

Das Teilprojekt I analysiert das mediterrane Grenzregime im Untersuchungszeitraum 2013-23 hinsichtlich der Mehrdimensionalität der beteiligten Institutionen und Gruppen. Seit 2013/14 gründeten sich in mehreren europäischen Ländern ZSNR-Organisationen, um dem akuten Mangel an Rettungskapazitäten für Geflüchtete im Mittelmeer zu begegnen. Diese „humanitäre Flotte“ hat zum Hauptziel, Menschen zu retten, die auf ihrer Flucht nach Europa zu ertrinken drohen. Die Missionen von z.B. Sea Eye, Sea-Watch und Proactiva Open Arms gründen auf der internationalen rechtlichen Verpflichtung, in Seenot geratene Menschen zu retten und in den nächstgelegenen sicheren Hafen zu bringen. Ihre Arbeit wurde seit 2016 immer wieder von EU-Mitgliedstaaten erschwert. Dennoch riss der Streit um die Notwendigkeit und Zulässigkeit der ZSNR nicht ab. In ihm beobachten wir verschiedene Narrative und Diskurspositionen: Es wird, erstens, darauf verwiesen, dass sie eine Reaktion auf das (Politik-)Versagen der EU-Institutionen, der EU-Mitgliedstaaten und Mittelmeeranrainerstaaten sei. Darüber hinaus wird, zweitens, ein moralisch-humanitäres Motiv in Bezug auf die Rettung und Sichtbarmachung des Leids der ‚Anderen‘ bemüht. Ein drittes Motiv konstruiert ZSNR als kriminellen Akt, der keinerlei rechtlich-politisches Mandat hat und daher illegalisierte Migrationsbewegungen unterstützt.

Der Fall der ZSNR im Mittelmeer verdeutlicht, dass nicht nur die EU, ihre Mitgliedstaaten sowie (supra-)nationale Grenzschutzagenturen in die Assemblage des mediterranen Grenzregimes eingebunden sind. Vielmehr sind dies ebenso nordafrikanische Partner*innen und deren Küstenwachen, privat finanzierte Organisationen, die sich der Beobachtung bzw. Dokumentation des Fluchtgeschehens sowie der Rettung von Menschen verschrieben haben, sowie Schiffe des Handels wie des Militärs; und schließlich auch die Flüchtenden selbst, deren Mobilität überhaupt erst die rechtlichen und politischen Reaktionen der EU auf gesteigerte bzw. sich verändernde Migrationsbewegungen evoziert.

Das TP I geht von der These einer wechselseitigen Abhängigkeit aller Beteiligten aus: Zunächst stehen die EU-Mitgliedstaaten untereinander in einem Abhängigkeitsverhältnis, wie die Debatten der Dublin-Verordnungen gezeigt haben. Weiterhin sind sie durch ihre Strategie der Externalisierung von Grenzkontrollen auch vom Kooperationswillen der sog. Drittstaaten abhängig, so z.B. von Libyen seit der Rückübertragung der SAR-Zone durch Italien. Die zunehmende technologische Überwachung des Mittelmeerraums durch FRONTEX wirft zusätzlich die Frage auf, welche Akteure überhaupt Zugang zu den Informationen über Geflüchtete in Seenot haben und entsprechend handeln können. Schließlich brachte die Einbindung ziviler Organisationen, aber auch die Beobachtung von Geflüchteten auf Hoher See aus der Luft (u.a. Alarmphone), neue Abhängigkeiten mit sich.

Die Untersuchung der Praxis sowie der juridico-politischen Rahmenbedingungen der ZSNR erfolgt anhand von Dokumentenanalyse, Feldforschung mit narrativen oder semistrukturierten Interviews und Beobachtungen.

Maria Ullrich (Postdoc) und Lena Laube (Projektleitung)

Das TP II widmet sich in ländervergleichender Perspektive der Analyse des zivilgesellschaftlichen Diskurses um die ZSNR in drei EU-Mitgliedstaaten (Deutschland, Italien, Spanien). Im Mittelpunkt stehen jene politischen und zivilgesellschaftlichen Akteure, die sich durch das Handeln der Nichtregierungsorganisationen (NGOs) in den letzten Jahren zu einer Positionierung im Streit um die ZSNR bewegt gesehen haben. Neben den NGOs der ZSNR haben sich in Europa, und insbesondere in Italien, Spanien und Deutschland, immer mehr Kommunen, Kirchen, in anderen Feldern etablierte Hilfsorganisationen, politische Parteien, Künstler*innen und Journalist*innen dem Thema der ZSNR angenommen.

Wir gehen davon aus, dass um die ZSNR eine soziale Bewegung entstanden ist, für die die Schiffe der Seenotretter*innen sinnbildlich für die politische und moralische Verantwortung von Einzelnen und Kollektiven stehen. Um diese These empirisch zu untersuchen, fragen wir danach, mit welchen größeren politischen Fragen und Konflikten zivilgesellschaftliche Akteur*innen das Handeln der ZSNR eigentlich verbinden und wo somit das Mobilisierungspotential dieser Protestbewegung liegt. Eine soziale Bewegung liegt zudem nur dann vor, wenn ein Netzwerk aus Netzwerken entsteht und es politische Allianzen unterschiedlicher Gruppen in Bezug auf gemeinsame Ziele gibt. Unsere Ausgangsthese ist, dass dieses gemeinsame Ziel im Hinterfragen der gegenwärtigen Praxis der politischen Inklusion und Exklusion von Subjekten an den EU-Grenzen liegt und sich damit nicht auf die humanitäre Hilfeleistung reduzieren lässt. Die Frage danach, wer dazugehört und wer nicht, wer aufgenommen werden soll und wer nicht, also letztlich die Frage nach der Konstitution des demos, muss in einer demokratischen Gesellschaft immer verhandelbar bleiben. Uns interessiert dabei insbesondere, anhand welcher Argumentationslinien Positionen für mehr politische Inklusion begründet werden.

Die Dynamiken des gesellschaftlichen Diskurses werden in Deutschland, Italien und Spanien für den Zeitraum 2013-2023 mittels Feldforschung, teilnehmenden Beobachtungen, leitfadengestützte und problemzentriertenInterviews sowie Dokumenten- und Medienanalyse erhoben.

Mareike Gebhardt (Forschungsstipendium und Projektleitung)

Das Teilprojekt III rückt eine demokratietheoretische Perspektivierung des europäischen Diskurses über ZSNR in den Vordergrund. Es schließt an die radikaldemokratietheoretischen Ansätze von Chantal Mouffe, Jacques Rancière und Jacques Derrida an, die über den politisierenden Modus des Streits eine stete Vertiefung der Demokratie einforderen, indem sie deren Gleichheitsversprechen und Freiheitserzählungen ernstnehmen – im Gegensatz zu autoritär-populistischen ‚Verteidigungen‘ der ‚Demokratie‘. Das Projekt erweitert diese Ansätze durch postkoloniale Perspektiven, die auf die kolonialen Kontinuitäten des mediterranen Grenzregimes verweisen, so z.B. Achille Mbembe. Die Radikalisierung der Demokratie geschieht über demokratischen Streit: Nicht-hegemoniale Positionen und marginalisierte Milieus müssen immer die Möglichkeit haben, um ihre Sichtbarkeit in der sog. Mehrheitsgesellschaft zu streiten; z.B., weil sie über keine Staatsangehörigkeit des Gemeinwesens verfügen, in dem sie leben, oder weil ihre Position über Mechanismen der Rassifizierung als weniger wertvoll erachtet wird. Im Gegensatz zur autoritär-populistischen Überzeugung, am Ende der Demokratie stehe ein Beenden des Streits, muss der Streit der Vielen als Signum der Demokratie in ihrem Namen aufrechterhalten werden.

In einem ersten Zugang fragt das Teilprojekt daher, ob und inwieweit ZSNR als eine radikaldemokratische Praxis des Streits verstanden werden kann? Demokratietheorie ist dabei nicht nur Gegenwartsanalyse der Demokratie, sondern auch ein Projekt, das die Konturen der Demokratie im Hinblick auf ihre Zukunft skizziert. Mit Derrida geht das TP III daher davon aus, dass Demokratie von einer radikalen Relationalität und Abhängigkeit gekennzeichnet ist, nicht von Vorstellungen der Autonomie und Souveränität. Damit beschreibt Derrida die Zukunft der Demokratie im Modus des Kommenden, der die zukünftige Ausgestaltung der Demokratie schon in der Gegenwart herzustellen vermag. Eine Vision der demokratischen Zukunft Europas darf also kein Endpunkt sein, sondern der Anfang, um Europa demokratisch umzugestalten, d.h. zu radikalisieren. In Bezug auf die Praxis und den Diskurs der ZSNR heißt dies, in einem zweiten Zugang, zu analysieren, ob und inwieweit ZSNR genau das tut; nämlich für die Realisierung des demokratischen Anspruchs auf Freiheit und Gleichheit im HEUTE zu kämpfen. Kurz: Kann ZSNR als Praxis der kommenden Demokratie verstanden werden?

Anhand der beiden zentralen Konzepte Streit und kommende Demokratie knüpft das Teilprojekt an die gemeinsame These des Kristallisationspunktes an und buchstabiert sie folgendermaßen aus: Erstens, die Praxis der ZSNR kann als politischer, nicht nur humanitärer, Widerstand gegen das EU-Grenzregime gedeutet werden. In ihr kristallisiert sich eine demokratische Praxis des Streits heraus, denn sie macht marginalisierte Positionen, wie die von Geflüchteten und Migrant*innen, sichtbar, indem sie auf das nekropolitische Sterbenlassen im Mittelmeer aufmerksam macht. Dementsprechend kann ZSNR als dissensuelle Demokratisierung im Modus des Streits aufgefasst werden (These 1). Allerdings sieht sich ZSNR, zweitens, auch der Gefahr der De-Politisierung ausgesetzt, indem sie sich auf humanitäre Argumente beschränkt und ihrer Kriminalisierung mit Moralisierung statt Politisierung begegnet. Die regressive politische Ordnung wird dann nicht demokratisch herausgefordert, sondern stabilisiert Zudem muss mit einem demokratietheoretischen Blick auf Migration und Flucht, der postkoloniale Perspektiven berücksichtigt, gefragt werden, ob und inwieweit ZSNR einen eurozentrischen („weißen“) Paternalismus zur Rettung alterisierter Migrant*innen reproduziert, der bestehende (rassistische) Herrschaft- und Machtverhältnisse aufrechterhält statt sie demokratisch umgestaltet: Sie ist dann weder politischer Streit noch Praxis der kommenden Demokratie (These 2).

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