Überleben in widrigen Umwelten. NGOs im politischen System Russlands
- Bearbeitung durch Evelyn Moser und Anna Skripchenko
- Projektlaufzeit: 2017-2019
- Das Projekt wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Im Jahr 2012 wurde in Russland das sogenannte Agentengesetz erlassen, das alle russischen Nichtregierungsorganisationen, die ausländische Finanzierungen erhalten und denen politische Tätigkeiten nachgewiesen werden können, dazu verpflichtet, sich als ausländische Agenten zu registrieren. Der Agentenstatus geht mit verschärften Rechenschafts- und Transparenzpflichten gegenüber dem Staat einher, eröffnet der Verwaltung mehr Kontroll- und Eingriffsmöglichkeiten, entpflichtet öffentliche Einrichtungen von der Zusammenarbeit mit den entsprechenden NGOs und zwingt die Organisationen, bei allen öffentlichen Aktivitäten den Verweis auf den Agentenstatus sichtbar mitzuführen.
Das Gesetz ist ein Versuch der staatlichen Politik, politische Kommunikation zu monopolisieren, indem sie die Inklusionschancen in die Zivilgesellschaft oder politische Peripherie durch die Beschränkung des Akteursstatus reguliert. Damit beschneidet der Staat jene Kommunikationszusammenhänge, die auf kollektiv bindendes Entscheiden ausgerichtet sind und in denen gesellschaftliche Anliegen und Problemlösungen artikuliert werden. Für NGOs, die als Organisationen mit ihren Zwecken darauf ausgerichtet sind, Einfluss auf die Bearbeitung gesellschaftlicher Probleme zu nehmen und dabei gesellschaftstransformativ zu wirken, ist dies fatal. Ihrem Selbstverständnis nach setzen sie sich für die Anliegen der russischen Gesellschaft ein, schöpfen hieraus ihre Legitimität und sind für die Verfolgung ihrer Zwecke zwingend auf Adressierbarkeit in der politischen Peripherie angewiesen, die das Agentengesetz zu unterbinden versucht.
Angesichts dieser Lage überrascht die hohe Widerstandsfähigkeit russischer NGOs: Die Mehrheit von ihnen stemmt sich erfolgreich gegen die Restriktionen, d.h. die Organisationen reproduzieren sich und verfolgen weiterhin ihre Zwecke. Die Antwort auf die Frage, wie ihnen dies gelingt, wird damit zu einem wichtigen Schlüssel, um die Dynamik des politischen Systems Russlands und die Wirkung des Agentengesetzes zu verstehen. Hier setzt das Projekt an: Aus einer organisationssoziologischen Perspektive und mittels eines konstruktivistisch-systemtheoretischen Organisationsbegriffs analysiert es die Anpassungsstrategien russischer NGOs, mittels derer sie ihr Überleben und ihre politische Adressierbarkeit in einer zunehmend restriktiven politischen Umwelt sichern, es fragt nach den Formen der Interaktion zwischen NGOs und formaler Politik, die dabei entstehen, und zieht Rückschlüsse auf die Strukturen der politischen Peripherie.
Empirisch fußt das Projekt auf qualitativen Fallstudien ausgewählter russischer NGOs in unterschiedlichen Tätigkeitsfeldern und dazu ergänzenden qualitativen Daten.